Der Botanische Garten und der Nutzpflanzengarten in Bonn aus postkolonialer Perspektive
Der Botanische Garten in Bonn und der daneben liegende Nutzpflanzengarten haben eine lange Geschichte. Diese muss auch getrennt voneinander betrachtet werden, da die Funktionen im und Bezüge zum Kolonialismus teils sehr unterschiedlich waren und sind.
Im 1818 gegründeten Botanischen Garten, der sich um das Poppelsdorfer Schloss herum befindet, lag der Fokus nie auf landwirtschaftlichen Nutzpflanzen. Historisch wurde der Garten mit Auszug des Kurfürsten Clemens August aus dem Poppelsdorfer Schloß und die Übergabe dessen an die Universität Bonn zum Eigentum der Universität Bonn und somit zum Zentrum Botanischer Forschung – „bereichert“ insbesondere durch den Raub von Pflanzen und die Aneignung von Wissen aus Kolonien im Globalen Süden.[1] Sein Gründungsdirektor Nees von Esenbeck hat zahlreiche Pflanzenarten aus der ganzen Welt beschrieben. Ihm wurde Pflanzenmaterial von befreundeten Sammler:innen oder Kolleg:innen, sog. Pflanzenjäger:innen, zugeschickt, während er selber nie Pflanzenjäger war.
Der 1847 gegründete Nutzpflanzengarten dagegen diente explizit dem Zweck, Nutzpflanzen aus anderen, vorwiegend kolonialisierten Regionen, einzuführen und zu testen, ob sie sich für einen Anbau in der Bonner Region eignen. Die Pflanzen haben Botaniker:innen von Raubzügen (sog. Forschungsreisen) aus damaligen Kolonien unter Gewaltanwendung[2] mit nach Europa gebracht. Unter welchen (klimatischen) Bedingungen bringen die Pflanzen am meisten Ertrag? Diese Frage wurden auch im Bonner Botanischen Garten beantwortet, womit er sich in eine koloniale Geschichte Botanischer Gärten im Globalen Norden einreiht.
Laut eigener Angabe spielten Bonner Botaniker „eine bedeutende Rolle bei der Entdeckung von Tausenden von Pflanzenarten, vor allem in den Tropengebieten der Erde.“[3] Hier ist z. B. Der Gründungsdirektor Nees von Esenbeck zu nennen, der u. a. Das Malvengewächs Goethea cauliflora nach seinem Freund Goethe benannte. Die Pflanze stammt aus Brasilien.[4]
Es wird deutlich: Die Natur wurde und wird „ideologisch kolonisiert“, indem indigenes Wissen aus dem Globalen Süden unsichtbar gemacht wird und die systematische Benennung der Pflanzen die indigene Bezeichnung verdrängt: Die Forscher werden als Entdecker der Pflanzen und ihrer Eigenschaften, bspw. der medizinischen Wirkung, bis heute geehrt. Analog zu der „Entdeckung“ von Erdteilen, in denen bereits Menschen leben, werden bereits bekannte Arten „entdeckt“ und ausgebeutet.
Damals wurden in den botanischen Gärten der Universitäten Europäer:innen ausgebildet, um westliches Wissen über produktivere landwirtschaftliche Anbaumethoden in den Globalen Süden zu bringen, produktiveres Saatgut zu entwickeln – ganz im Sinne kapitalistischer Naturausbeutung. Bis heute passiert Gleiches an den gleichen Orten – z. B. In Witzenhausen bzw. Kassel, wo Mitarbeiter:innen der deutschen sog. „Entwicklungszusammenarbeit“ für die GIZ ausgebildet werden[5]. Und auch in Bonn gibt es an der Landwirtschaftlichen Fakultät einen Studiengang, der ähnliche Wurzeln hat: „Master of Science Agricultural Science and Resource Management in the Tropics and Subtropics”[6]
Botanische Gärten und Nutzpflanzengärten im Kolonialismus
In den Nutzpflanzengärten war das Ziel der Forschung, die Produktivität der Nutzpflanzen zu steigern, um die Versorgung der europäischen Bevölkerung mit diesen Lebensmitteln zu sichern. Diese Gärten werden somit auch als agronomisch-botanisches Fundament der Kolonialherrschaft bezeichnet. In dieser Zeit wurde Botanik zur nationalen Aufgabe erklärt – jede Kolonialmacht verfolgte das Interesse, durch gesteigerte Anbaumengen in den eigenen Kolonien unabhängiger von Importprodukten wie Kaffee aus anderen Kolonien zu werden.
In den ehemaligen Kolonien führte dies somit zum einen zu monokulturellen Anbau im großen Stil, wie es in Plantagen üblich ist. Das bekannteste Beispiel ist die Kakaopflanze, die aus Südamerika stammt und heute vor allem als westafrikanisches Gewächs bekannt ist[7]. Der zunächst vielleicht weniger bekannte Chinarindenbaum ist ein weiteres Beispiel. Justus Karl Haßkarl[8], der in Bonn zum Gärtner und Botaniker ausgebildet worden war, hat im Auftrag der niederländischen Regierung Samen und Jungpflanzen der Chinarindenbäume aus Peru gestohlen. Daraus konnte Chinin gewonnen werden, welches zu dieser Zeit (1853) das einzig bekannte Mittel gegen Malaria war. Damit legte er den Grundstein zum Monopol der Niederländer auf die Produktion des Medikaments – welches gleichzeitig weiteren Europäer:innen Reisen in die tropischen Kolonialgebiete ermöglichte. Weitere Beispiele hierfür sind Kautschuk-Pflanzen, die z. B. Von Südamerika nach Süd-Ost-Asien bzw. Ostafrika verschifft wurden, oder Sisalpflanzen, die aus Lateinamerika stammen und in Ostafrika auf Plantagen angebaut werden. Gleichzeitig findet hier eine starke Verknüpfung zwischen Ausbeutung von Arbeitskraft und Natur statt: die Arbeit in den Plantagen findet auch heute noch unter katastrophalen Umständen statt, um größtmögliche Profite, insbesondere für Unternehmen im Globalen Norden, zu erwirtschaften – Kakao ist hierfür eins der besten Beispiele.
Außerdem wurden zahlreiche einheimische Pflanzen durch diese Eingriffe ausgerottet oder durch den Plantagenanbau invasiver Arten verdrängt und ganze Ökosysteme unwiderruflich aus dem Gleichgewicht gebracht. Gleichzeitig bezeichnen sich botanische Gärten (bis) heute häufig als Hüter von Biodiversität, auch wenn o. g. Aktivitäten zu deren Verringerung beigetragen haben. Es wurden in der Kolonialzeit über 16.500 Arten in diesem weltumspannenden Netzwerk rund um die Welt verschifft, koordiniert vom Botanischen Garten Berlin, die der sog. Botanischen Zentralstelle für die deutschen Kolonien bildete.[9] Versteht man dieses Netzwerk als Teil einer kapitalistischen Globalisierung von Ökonomien, so kann dies in einen postkolonialen Diskurs eingeordnet werden. Dies deutet auf einen Zusammenhang zwischen globaler Ausbeutung (sozial, ökonomische wie ökologisch) durch kapitalistische Produktionsweisen und der Rolle von Botanischen Gärten hin[10].
Im Kontext der Sammlungen von Museen gibt es seit geraumer Zeit Debatten um die Rückgabe von Ausstellungsstücken (Restitution), die im Zuge der Kolonialzeit geraubt wurden. Botanische Gärten können als organische Museen verstanden werden, deren Exponate genauso wie in (ethnologischen) Museen, seltene, manchmal einzigartige Artefakte aus anderen Ländern zeigen. Bis heute finden sich diese geraubten Pflanzen in den Repräsentations- und Forschungseinrichtungen Europas – wie z. B. dem Botanischen Garten in Bonn – und werden als „reicher Schatz“ dieser Ausbeute verstanden“[11]. Gleichzeitig stellt hier die Reproduktionsfähigkeit der Pflanzen einen signifikanten Unterschied zu kulturellen Artefakten dar, da sich die Gärten durch den Raub zwar bereichert haben, kulturelle Artefakte jedoch häufig als unersetzlich gelten und Pflanzen teils weiterhin verfügbar waren.
Heutzutage verbinden viele vor allem Entspannung und schöne Momente mit Spaziergängen durch botanische Gärten. Die botanische Forschung in der Kolonialzeit war für Deutschland wirtschaftlich unmittelbar nicht so erfolgreich, aber schon damals war ein Ziel auch, den Gedanken der Kolonisierung populärer zu machen, um Kolonialismus als System zu erhalten – eben durch die Schaffung von „schönen Bilder“ in den Köpfen der Menschen.
Und heute?
Auch wir Zimmerpflanzen-Liebhaber:innen müssen uns aber der Realität stellen: die meisten „exotischen“ Pflanzen stammen ursprünglich aus dem Globalen Süden, wurden ggf. unter unzumutbaren Arbeitsbedingungen auf Plantagen angebaut oder illegal aus der Natur entfernt – nur die wenigsten unter uns wissen sicherlich, wo genau die eigene Lieblingszimmerpflanze herkommt und wie sehr wir Natur und Menschen im globalen Süden (teils bis heute) dafür ausbeuten. Umso mehr gilt dies für Schnittblumen wie Rosen: Ein Großteil der bei uns verkauften Rosensträuße werden in Ostafrika, v. a. Kenia und Tansania, produziert.
Ein Weg, um problematische Produktionsverhältnisse zu boykottieren besteht, wie so häufig, in der Nutzung des schon Vorhandenen: Durch die Fortpflanzungsfähigkeit von Pflanzen ist es häufig möglich über Freund:innen und Bekannte oder Tauschnetzwerke an Ablegern von beliebten Pflanzen zu kommen und so keine neuen Pflanzen erwerben zu müssen. Vorsicht ist jedoch bei Erde, Töpfen und weiteren Accessoires geboten: genau hinschauen und auf torffreie Erde achten – am besten vom eigenen Kompost. Ein weiterer bedeutender Aspekt liegt in der mit den Zimmerpflanzen verbundenen Bildern von „Exotik“: Der Trend des Urban Jungle unterstreicht die Vorstellung vom „Anderen“ als natürlich, wild – als unbeherrschte Natur. Diese Vorstellungen und Ideen ziehen mit den Zimmerpflanzen in das Zuhause ein. Umso wichtiger ist eine Reflexion darüber, was Zimmerpflanzen verkörpern und wie diese Vorstellungen koloniale Stereotype reproduzieren. In der Exotik der Zimmerpflanzen verschränken sich ökologische Ausbeutung und soziale Verhältnisse zu einem komplexen Machtverhältnis.
Abschließend lässt sich festhalten, dass botanische Gärten und Nutzpflanzengärten eine komplexe koloniale Vergangenheit haben und ihre Forschung in den vergangenen Jahrhunderten eine zentrale Funktion bei der Eroberung der Kolonien hatte sowie die Basis für die bis heute andauernde Ausbeutung von Natur und Menschen in den ehemaligen Kolonien bildet.
Neben der angesprochenen Debatte um die Rückgabe von Pflanzen (Restitution) gibt es auch Ansätze, im Globalen Süden mehr botanische Gärten aufzubauen. Als Hüter der Biodiversität sollten sich insbesondere an Biodiversität-Hotspots (Orten mit sehr hoher Biodiversität auf der Erde, welche sich insbesondere in äquatornahen Regionen befinden) zahlreiche botanische Gärten finden – aktuell befinden sich jedoch ¾ aller botanischen Gärten der Erde an biodiversitätsarmen Orten im Globalen Norden. [12] Eine Forderung ist daher, auch im Globalen Süden die wissenschaftlichen Kapazitäten auszubauen, um Biodiversität vor Ort erforschen und erhalten zu können, da Grundlagenforschung und damit verbundener Naturschutz teils Luxus sind, der sich v. a. In botanischen Gärten im Globalen Norden geleistet werden kann. Die Forderung nach der Rückgabe gestohlener Pflanzen wird in diesem Kontext noch wichtiger. Aktuell ist die Praxis zwar so, dass auch der botanische Garten in Bonn Samen und andere verschickbare Pflanzenteile kostenlos an alle botanischen Gärten abgibt bzw. verschickt, die danach fragen. Eine kritische Debatte, warum die Samen überhaupt im Besitz eines botanischen Gartens im Globalen Norden sind, wird dadurch jedoch nicht angestoßen.
Während dies die meisten von uns nicht als ihren unmittelbaren Einflussbereich sehen, kann aber trotzdem jede:r etwas tun: Den unten verlinkten Podcast hören, sich über die Herkunft einzelner Nutz- und Zierpflanzen informieren, auf Ableger zurückgreifen, bei den botanischen Gärten vor Ort einen Austausch über die koloniale Vergangenheit anregen…
Weiterführendes
- Sehr empfehlenswerter Podcast, insb. Folge 1: https://www.fdcl.org/publication/2020-10-16-curare-kautschuk-stevia-eine-koloniale-spurensuche-ueber-das-pflanzensammeln-2/
- Uni Hamburg Veröffentlichung Politische Ökologie https://www.geo.fu-berlin.de/geog/fachrichtungen/anthrogeog/zelf/Medien/download/Geographisches_Kolloquium/Vortrag_Tobias_Schmitt_09_01_2018.pdf
- https://www.adkdw.org/de/article/1445_botanical_garden_as_a_colonial_site
- https://www.uni-kassel.de/uni/aktuelles/termin/post/detail/News/vortrag-sisal-tee-vanille-die-rolle-der-botanischen-gaerten-einst-und-jetzt/
- https://d-nb.info/1073219283/34
- http://www.goettingenkolonial.uni-goettingen.de/)
- https://www.irishtimes.com/news/environment/a-potted-history-of-plants-at-dublin-s-national-botanic-gardens-1.4006634
[1] http://www.botgart.uni-bonn.de/o_uns/geschichte.php
[2] Gewalt umfasst hier nicht nur direkte physische Gewalt, sondern auch die Nutzung bis heute existierender Herrschaftsverhältnisse, die Menschen und Regionen im Globalen Süden unterdrücken und ausbeuten.
[3] http://www.botgart.uni-bonn.de/o_uns/history/botuni01.php
[4] http://www.botgart.uni-bonn.de/o_samm/allmonatdet.php?id=114
[5] 1898 wurde in Witzenhausen die Deutsche Kolonialschule (Tropenschule) gegründet, um Menschen für eine Übersiedlung in die Kolonien landwirtschaftlich auszubilden. Die Nachfolgeeinrichtungen existieren bis heute als Teil der Universität Kassel. Es werden mit den o. g. Zielen u. a. dort Fachkräfte für die Entwicklungszusammenarbeit von der GIZ ausgebildet.
[6] https://www.lf.uni-bonn.de/de/studium/master/arts
[7] https://www.deutschlandfunkkultur.de/globaler-sueden-reich-an-schaetzen-trotzdem-arm.976.de.html?dram:article_id=480949
[8] https://www.deutsche-biographie.de/sfz28101.html
[9] https://www.fdcl.org/publication/2020-10-16-curare-kautschuk-stevia-eine-koloniale-spurensuche-ueber-das-pflanzensammeln-2/
[10] mehr dazu: https://epub.wupperinst.org/frontdoor/deliver/index/docId/1868/file/WP143.pdf/ Kapitel2
[11] https://postcolonialpotsdam.org/2020/03/05/botanischer-garten-1/
[12] s. Karte hier: https://postcolonialpotsdam.org/2020/03/05/botanischer-garten-2/