Verwurzelt im Kolonialismus? Beginn & Bezüge
Im Rahmen des Stadtrundgangs von bonn postkolonial gibt es die Station “Universität”. Fachdisziplinen wie Geographie und Biologie, aber auch Einzelpersonen, aktuelle Ausstellungen und Formen der Lehre sowie Forschung und Wissenschaft an sich werden aus postkolonialer Perspektive diskutiert. Dabei geht es sowohl um deren Ursprünge als auch darum, wie ganz aktuell gehandelt und damit umgegangen wird. Eigentlich hätten wir ganze Rundgänge nur über die Uni machen können, deren Gebäude und Einflüsse über die ganze Stadt verteilt sind.
Als ein Beispiel für Personen an der Uni, die sehr direkt in koloniale Vorhaben verstrickt sind, haben wir oft über Ferdinand Wohltmann, Professor für Bodenlehre und Pflanzenbau (1857-1919), gesprochen, der sich auf tropischen Agrikultur spezialisierte und im amtlichen Auftrag sogenannte Forschungsreisen in deutsche Kolonien unternahm. Seine Erfahrungen (aus der Perspektive des Kolonisators) publizierte er und galt dadurch als Experte zu tropischen Landbau. Er wurde 1897 Teil des Vorstands der Deutschen Kolonialgesellschaft, gründete 1908 die Kolonial-Akademie zu Halle. Er ist ein Beispiel, wie Wissenschaft und Kolonialpoltik zusammenhängen.
Irgendwie hatten wir immer mehr das Gefühl, wir sollten den Botanischen Garten als Ort mehr recherchieren. Gründe ihn als Ort in den Rundgang aufzunehmen gab es genug:
Die zentrale Lage in Poppelsdorf und nahe des Campus’ machen ihn zu einem bekannten Ort mit Alltagsbezügen, z. B. als Freizeit- und städtischen Grünraum – auch für meine Mittagspause
Lehr- und Bildungsveranstaltungen am Botanischen Garten mit Bezug auf Globalen Süden, Biodiversität & tropische Landwirtschaft / Plantagenwirtschaft
Symbolisch für die Wissenschaftsdisziplinen Biologie & Agrarwissenschaft
Anknüpfung an aktuelle Fragen um Rückgabe/Restitution von Ausstellungsstücken und der Frage, ob der Botanische Garten ein Museum ist
herrschaftliche Ansprüche und historische Verbindungen zum kurfürstlichen Schloss: Idealisierung und Romantisierung von Landschaft sowie die Präsentation tropischer Pflanzen als Trophäen – die wir bei Tauschbörsen ja gerne zu uns nach Hause holen
und ganz praktisch: Sitzmöglichkeiten, Toiletten sind für einen Stadtrundgang ideal.
Bei den ersten tiefergehenden Recherchen haben wir gemerkt, dass wir nur einen Bruchteil der Aspekte überhaupt thematisieren können – Es gibt unendliche viele Zusammenhänge zur Botanik und dem Garten. Ein Beispiel, was vielleicht am Alltag einiger Leser:innen näher dran ist, sind tropische Zimmerpflanzen.
Angestoßen durch unseren bestehenden Rundgang und befördert durch ein neues Projekt, eine postkoloniale Stadtkarte von Bonn zu erstellen, haben wir den Kontakt zum Botanischen Garten Bonn gesucht – und in ein paar Zoom-Calls (Corona…) mit der Leiterin des Botanischen Gartens “wilde” Pläne zu gemeinsamen Veranstaltungen in den kommenden Sommern geschmiedet. Diese sind im Sande verlaufen – aber ein ausführlicher Text zum Botanischen Garten für unsere Website entstand und immerhin kannten wir uns so und haben, wie ihr gleich lesen werdet, einiges beieinander angestoßen.
Neophyten, (kein) Kolonialismus und unsere Zusammenarbeit
Im Sommer 2022 gab es im Botanischen Garten Bonn die Ausstellung „Neue Wilde – Globalisierung in der Pflanzenwelt“. Im Garten waren mehrere Hinweistafeln verteilt, an denen die historischen und ursprünglichen Verbreitungsräume bestimmter Pflanzen aufgezeigt wurden und sie als Neophyten (eingeschleppte Arten) in Deutschland problematisiert wurden. Dabei fiel uns auf, dass die Wege, wie diese Pflanzen nach Europa gekommen sind, um sich dann hier auszubreiten, nicht Thema sind. Wo wir 1000 Anknüpfungspunkte an den Kolonialismus sehen, hat es die Ausstellung geschafft, keinen davon auch nur zu erwähnen. Ganz offensichtlich sind Neophyten direkt mit kolonialen Reisen in Verbindung zu bringen. Diese Leerstelle wollten wir nicht als solche lassen und „ergänzten“ die Ausstellung mit Stickern.
Die ersten Sticker sind schnell verschwunden, dann aber wieder aufgetaucht 😉 Bald darauf bekamen wir einen Anfrage von der Kustodin des Bonner Botanischen Gartens: Eine für uns überraschend freundliche Email mit Interesse an Austausch über unsere Kritikpunkte – der seitdem floriert. Vielleicht hättet ihr erwartet, dass wir uns als aktivistische Gruppe nicht darauf einlassen und nicht vereinnahmt werden wollen. Doch so ein Moment, in dem keine Abwehr geäußert, sondern Offenheit gezeigt wurde, ist leider selten – dazu mal an anderer Stelle mehr. Es mangelte nur an Kapazitäten und Wissen für die Auseinandersetzung mit der kolonialen Geschichte des Botanischen Gartens.
Rückblickend können wir also sagen, dass sich Zusammenarbeit und aktivistische Kritik von außen eher ergänzen und fördern, als ausschließen. Um dies schonmal vorweg zu nehmen: Durch unsere Intervention wurden langfristige Prozesse im Botanischen Garten mitangestoßen, die seitdem laufen, anstatt dass wir immer wieder neu kritisieren und Überzeugungsarbeit leisten müssen.
Zu der Zeit wurde auch vom Verband Botanischer Gärten an einer Stellungnahme zu Botanischen Gärten, Pflanzensammlungen und Kolonialismus gearbeitet – voran gebracht auch durch die Kustodin des Botanischen Gartens Bonn.
Neben dem direkten Austausch in der Praxis haben wir uns auch mit wissenschaftlicher Forschung dazu auseinandergesetzt und (surprise) festgestellt, dass es auch dort noch einige Leerstellen gibt. Im Januar 2023 haben wir einen Slot auf der Konferenz „Neue Kulturgeographie“ gestaltet, wo wir wissenschaftliche und aktivistische Perspektive zusammengebracht haben. Am meisten drehte es sich dann aber doch um die Praxis vor Ort: Es gab im Juli 2023 eine koloniale Gartenführung mit 100 Teilnehmenden und anschließender Podiumsdiskussion in Bonn. Neben viel konstruktivem Feedback und Anstoßen uni-interner Vernetzung, woraus schon konkrete Projekte entstanden sind, gab es – natürlich – auch Zeitungsartikel (Paywall) und Leserbriefe. Diese sind unvollständig und stellen unsere Zusammenarbeit völlig falsch, nämlich als Konfrontation dar. Sie zeigen, dass das Thema Kolonialismus längst nicht zugänglich für alle ist und die Autor:innen offensichtlich noch keine Wege gefunden haben, sich (selbst)kritisch und offen mit der eigenen Verstrickung in koloniale Verbrechen auseinanderzusetzen. Dies zeigt uns auch, dass es noch viel Bedarf daran gibt, wie wir gut darüber sprechen können, ohne Abwehrreaktionen hervorzurufen.
Warum der Blog?
Seitdem arbeiten wir, mal zu zweit, mal als bonn postkolonial, konstant an dem Thema, haben viele Ideen und Pläne – nur durch Alltagsverpflichtungen, nicht durch Mangel an Begeisterung – begrenzt. Um diese Gedanken festzuhalten, verschiedene Perspektiven zu verbinden, zugänglich zu machen, gibt es jetzt diesen Blog!
Er soll ein Wissensarchiv sein, in dem lose Gedanken und erste Ideen festgehalten werden. Und ein kontinuierlicher Raum für Austausch, der unregelmäßig gefüllt wird. Mal von uns, mal von anderen (vielleicht von dir?) wird er so mit unterschiedlichen Schwerpunkten, Herangehensweisen, Perspektiven und Schreibstilen, mal mit Blick für Details, mal für große Zusammenhänge wachsen… Wir sind gespannt, wen er wozu inspiriert (schreibt uns gern!) und welche neuen Handlungsmöglichkeiten – auch für andere Botanische Gärten – gedeihen!
Ok – und warum konkret jetzt nochmal der Botanische Garten?
Es gibt zwar viele (selbst-)kritische de- und postkoloniale Forschungsprojekte, die an der Universität angesiedelt sind. Was aber fehlt ist tiefgehende und kritische Auseinandersetzung mit der eigenen kolonialen Vergangenheit und der postkolonialen Geg – ob in der Uni-Verwaltung, dem Selbstverständnis als Universität und den meisten zugehörigen Instituten, wie auch im Botanischen Garten. Viel zu selten wird konkret gefragt:
Warum wird/wurde das koloniale Erbe im Botanischen Garten nicht thematisiert?
Wie hat die (botanische) Forschung koloniale Ausbeutung ermöglicht oder beruht darauf?
Welche Gelder sind in der Kolonialzeit und darüber hinaus in den Botanischen Garten Bonn geflossen?
Wieso ist auch eine Naturwissenschaft politisch und kann sich nicht auf Neutralität und ein “es geht ja nur um die Pflanzen” zurückziehen?
Zu guter Letzt möchten wir festhalten: der Botanischer Garten ist nicht DER Ort der schlimmsten Kolonialverbrechen, aber ein Beispiel wie Kolonialismus ALLES durchdringt. Und ja, es gibt vielleicht “drängendere” Probleme, aber es braucht auch physische Orte der Auseinandersetzung mit dahinterstehenden, komplexen Strukturen wie dem Kolonialismus. An solchen Orten können wir alle einen Blick für unsichtbar gemachte koloniale Spuren und Gegenwarten entwickeln und diese (an)erkennen. Hier bieten Botanische Gärten einen – unserer Meinung nach – sehr geeigneten Ort (um zu Beginnen).
Wir freuen uns – gemeinsam mit euch – auf Spurensuche zu gehen und uns tiefer herauszuarbeiten und zu diskutieren!
Es gibt hier keine Kommentarfunktion, aber schreibt uns gerne eine Mail, wenn ihr Ideen, Fragen, Lust auf Austausch, Kritik habt (gern mit Blog Botanischer Garten im Betreff, damit wir es gut zuordnen können). Wir versuchen auch zu antworten!